Timm Ulrichs

Deutschland - Ihr Anteil

Mit Bodenhaftung - zum Kunstreservat "Deutschland - Ihr Anteil"

Aller vermeintlichen Wissenschaftlichkeit zum Trotz: Statistiken eignet ebenso Fiktives wie Faktisches. Nur wer fest an Zahlen glaubt, wird für objektiv halten, was Meinungsforscher und statistische Ämter bekanntgeben; da bedarf es nicht einmal der Winston Churchill zugeschriebenen Warnung: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Geistreicher noch formulierte Erich Kästner seine Vorbehalte: „Auf tausend Deutsche kämen wohl pro Jahr / gerade 19 Komma 04 Kinder. / 04! Und sowas hält der Mann für wahr! / Dass das nicht stimmen kann, sieht doch ein Blinder!“ („Patriotisches Bettgespräch“, in: „Ein Mann gibt Auskunft“, 1930). Der Realität zwar entnommen, lassen sich statistische Werte nämlich dennoch nicht direkt auf diese zurückprojizieren. Wo etwa gäbe es den sprichwörtlichen Allerweltsmenschen, Jedermann und Normalverbraucher, hätte ich ihn nicht in einer ganzjährigen Aktion verkörpert und gelebt? Vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1973 „materialisierte“ und „verdinglichte“ ich Statistiken über den Pro-Kopf-Verbrauch an zwanzig ausgewählten Nahrungs- und Genussmitteln in der Bundesrepublik Deutschland („Timm Ulrichs als personifizierter statistischer „Durchschnittsmensch“, 1965/72/73), eine Rolle, die gar nicht so einfach einzulösen war. Dies bedenkens- und auch sehenswerte Verhältnis von „Science“ zu „Fiction“, von Abstraktion zu Konkretion habe ich über viele Jahre immer wieder ins Bild und Objekt gesetzt: „Die Distanz von Leben zu Kunst (gemäß der deutschen Wort-Statistik)“, 1969/78; „Fernsehen in Nahsicht. Statistik des Fernsehbildes“, 1968/70; „Die Lieblingsfarben der Deutschen“, Bild-Statistik, 1977/79; Deutsche Haarfarben-Statistik (Nationales Körperkunst-Farbenspiel), 1971/74; Menschenrassen (Einteilung nach Hautfarben), 1969/70; Statistisches Blutgruppen-Bild, 1970 / Göttingen 1976; Allgemeine deutsche Sterbetafel, 1965; Alters-Pyramide (Altersaufbau der Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland), 1970; Getreide-Weltproduktion, 1969/70; Statistischer deutscher Wald (Einteilung nach Baumarten), statistische Kunstlandschaft, 1970/Bielefeld 1973, und „Ein Wald auf Reisen“, 1997/Kassel 1999.

Statistiken im Kopf und im Blick, lässt sich auch die Frage erneut stellen: „Was ist des Deutschen Vaterland?“, aber nicht, wie Ernst Moritz Arndt dies 1813 tat zur Standortbestimmung für ein sich als heimatlos empfindendes Nationalgefühl, sondern ganz direkt: Wem gehört Deutschland, jenseits (oder diesseits) von Metaphern wie „Vaterland“ und „Mutter Erde“? Anlässlich meiner Ausstellung „Totalkunst“ im Museum Haus Lange, Krefeld 1970, hatte ich den Plan, ein „Grundbuch Deutschland“ zu zeigen, das mit weißen, ein mal ein Meter großen gestapelten Papierbögen die jedem Einwohner zustehende Fläche repräsentieren sollte, würde das gesamte Terrain Deutschland komplett und gerecht „sozialisiert“. Ein wie üblich in den Nationalfarben bemaltes Schilderhaus von ebenfalls einem Quadratmeter Grundfläche war bereits besorgt worden und sollte dem Buchobjekt beiseite gestellt werden. Zur Ausführung kam dies „Grundbuch“ aber erst 1994 im Rahmen der 5. Biennale der Papierkunst, „Paper Art 5“, im Leopold-Hoesch-Museum und Papiermuseum Düren, dort mit 4394 „Seiten“ (Stand: 1991/93) und „Buchdeckeln“ aus drei Zentimeter starken schwarzen Granitplatten. (Als Kunst-am-Bau-Projekt hatte ich es im gleichen Jahr zudem vorgeschlagen für das ehemalige Zeughaus in Oldenburg i. O.) Und als ich im Zusammenhang mit meiner Ausstellung „Kopf- und Körperkunst“ im Städtischen Museum Wiesbaden im „Wiesbadener Kurier“, Nr. 222 vom 25. September 1971, die Zeitungsannonce „4132 qm Land gesucht“ aufgab, erhielt ich tatsächlich einige Angebote von Grundstücksmaklern, was auch immer diese angesichts der merkwürdigen Grundstücksgröße sich dabei gedacht haben mögen.

Nun endlich, in Osnabrück, kann das jedem Bundesbürger „eigentlich“ zustehende Areal veranschaulicht und in Quadratform abgesteckt werden, von einem „typisch deutschen“ Jägerzaun begrenzt und durch ein Baustellenschild ausgewiesen. Diese zwei mal drei Meter große Tafel bietet sich somit auch als Projektionsfläche an für imaginiert-imaginäre Bebauungspläne und für Gedanken darüber, warum die meisten der Besucher weder dieses Stück Land ihr eigen nennen können noch zumindest einen bis zwei Quadratmeter eigenen Boden unter den Füßen haben, um dauerhaft wenigstens Platz für einen Sarg zu haben. Warum, beispielweise, bin ich, als gottloser „Materialist“, ein Johann-ohne-Land, und warum zählen die Kirchen, deren Reich doch angeblich nicht von dieser Welt ist, zu den größten Grundbesitzern? Und allenthalben Schilder: „Privatbesitz. Betreten verboten!“ Hier aber, wenn auch nur temporär, dürfen Sie sich frei bewegen und sozusagen Land gewinnen: „Bei gleichmäßiger Aufteilung der Grundfläche Deutschlands (357.092.90 km²) kommen auf jeden der Bundesbürger (82.310.000) 4.338,39 km² an Grund und Boden. Diesen statistisch durchschnittlichen Grundbesitz von 65,87 mx65,87 m können Sie hier begehen.

 

Zum Thema weiterhin: „Wie viele Worte sagt ein Bild?“ Über Kunst und Statistik. In: „noi altri – wir anderen. Künstlerische Aktivität und Selbsterfahrung im sozialen Raum.“ Herausgeber: Museen der Stadt Regensburg, Veit Loers. Städtische Galerie Regensburg, 7.5.-27.6.1982. Verlag Kretschmer & Großmann, Frankfurt am Main 1982, S. 205-217

Text: Daniel Neugebauer